Persönlich habe ich Heidegger kaum gekannt. Einmal hab‘ ich in Marburg – wie es dazu kam, ist mir entfallen – bei H.s übernachtet. Die Unterhaltung ließ sich nach dem sehr einfachen Nudel-Abendessen ganz gut an. Denn ich zitierte, erst einmal ohne den Autor zu nennen, Voltaires herrliches Wort: „Es genügt nicht zu schreien, man muß auch Unrecht haben“, das sogar ihn, den total Humorlosen, amüsierte. Als ich aber erklärte, daß das Wort von Voltaire stamme, machte zuerst sie, daraufhin auch er ein schiefes Gesicht. Völlig war der Abend aber dadurch verdorben, daß ich in harmlosestem Tone fortfuhr, natürlich gelte symmetrisch auch das Wort: „Es genügt nicht zu murmeln, man muß auch recht haben.“ Während sie natürlich überhaupt nichts verstand, blickte er mich einen Moment lang haßerfüllt an. Er fühlte sich durchschaut. Denn es war ja seine tägliche Taktik, durch nahezu unhörbares Murmeln eine totale Stille im Saal zu erzwingen und dadurch den Hörern einzureden, daß alles, was sie mindestens akustisch mitkriegten, auch „unverborgen“, also wahr, nein: die Wahrheit, sein müßte.
Günther Anders, Über Heidegger, hrsg. von G. Oberschlick in Verbindung mit W. Reimann als Übersetzer. Mit einem Nachwort von D. Thomä, München 2001, S. 11.